Sie plädieren dafür, die Förderschulen auch auf dem Land aufrechtzuerhalten?

Ulrich Pohl: Zunächst muss man analysieren, wie viele Kinder mit welchem Grad der Einschränkung im Einzugsbereich einer Schule leben und ob die Chance besteht, sie in der Regelschule zu inkludieren. Wenn das nicht funktioniert, muss man die Messlatte der Schülerzahl senken und eine Förderschule mit weniger als 144 Schülerinnen und Schülern unterhalten. Wenn nämlich Eltern im ländlichen Raum ihre Kinder in Förderschulen mit Internaten in andere Städte geben, schafft man das Gegenteil von Inklusion, Exklusion.

 Kann man sagen, inklusive Beschulung, die Aufnahme in Regelschulen, ist nur für Kinder mit leichten Einschränkungen gut?

Pastor Ulrich PohlUlrich Pohl: Inklusive Beschulung ist gut für Kinder, die auf vorbereitete Schulen treffen. Wenn Kinder zum Beispiel gewindelt werden müssen, braucht die Schule einen Pflegeraum und auch Lehrinnen und Lehrer, die dazu bereit sind. Oder es muss Pflegepersonal eingestellt werden. Aber allein von den äußeren Voraussetzungen sind viele Schulen darauf noch nicht vorbereitet. Mit einer Einschränkung wie Seh- oder Hörbehinderung tun sich Regelschulen leichter, indem sie zum Beispiel den Lehrer mit einem Mikrophon und den Schüler mit einem Empfänger ausstatten. Generell gilt: Die Eltern müssen bei ihrer Entscheidung berücksichtigen, ob eine Schule personell, baulich und in der Einstellung der Lehrerinnen und Lehrer auf ihr behindertes Kind vorbereitet ist.

Aber es wird doch sicher auch weiterhin behinderte Kinder und Jugendliche geben, die nicht in einer Regelschule inkludierbar sind, oder?

Ulrich Pohl: Für mich ist Differenzierung wichtig. Alle Menschen müssen die beste Förderung bekommen, die notwendig ist, damit sie in ihrem Leben so gut wie möglich zurechtkommen.
Ist die Kehrseite von breiter Inklusion nicht die, dass man Menschen, die weniger inkludierbar sind, noch stärker isoliert?

Ulrich Pohl: Ja, die große Gefahr ist der Ausschluss von Menschen mit schweren Behinderungen. Dies gilt übrigens auch für die Altenhilfe, wo es eine Gruppe von Menschen gibt, die nicht mehr ambulant betreut werden kann. In der Schule sollte man sich bemühen, Kinder zumindest in einzelnen Fächern gemeinsam lernen zu lassen. Ich glaube, dass jeder Mensch inkludierbar ist. Aber es ist nötig, alle Schüler auf dem ihnen angemessenen Leistungsniveau zu unterrichten.

Das Inklusionsziel heißt konsequente gesellschaftliche Teilhabe. Aber das lässt sich doch nicht immer verwirklichen.

Ulrich Pohl: Hier in Bethel leben auch schwerstbehinderte Kinder, die im Pflegebett liegen. Man kann das nicht verheimlichen und muss ebenso deutlich sagen, dass bei ihnen trotz der sehr eingeschränkten Möglichkeiten Inklusion dennoch anzustreben ist.

Worin unterscheiden sich eigentlich Inklusion und Integration?

P Pohl Ulrich Interview 2014 15Ulrich Pohl: Wir stehen vor einem Paradigmenwechsel. Integration bedeutet, dass sich eine Minderheit an die Kultur und Regeln der Mehrheit anpasst. Inklusion verlangt dagegen den Wandel der Mehrheit, damit jeder Mensch aktiv teilhaben kann. So muss eine Stadt, die keine Hochbahnsteige für Rollstuhlfahrer hat, diese eben schaffen. Und auch die Regelschulen müssen sich verändern. Von der Schule über die Arbeitswelt bis zur Altenpflege müssen wir Inklusion verwirklichen und allen Menschen die gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Und das ist ein Quantensprung. Aber auch die Menschen mit Behinderung müssen sich verändern, denn an sie werden ebenfalls Anforderungen gestellt.

Weite Teile der Gesellschaft können mit dem Begriff Inklusion noch gar nichts anfangen. Denn seit rund 170 Jahren ist Separation und nicht Integration, geschweige denn Inklusion das Modell für den Umgang mit behinderten Menschen. Schon beim Thema Integration gehen die meisten Leute ja davon aus, es betreffe nur Ausländer, die in ein fremdes Land kommen und sich anpassen sollen. Und wenn man den Begriff Integration schon an dieser Stelle verkürzt, dann wird es auch mit dem komplexen Begriff Inklusion schwierig. Es wird lange dauern, dafür ein Bewusstsein zu schaffen. Das ist eine Generationenaufgabe.

Und was bedeutet das für Bethel?

Ulrich Pohl: Inklusion bedeutet Durchmischung. Menschen mit Behinderung sollen ihren Arbeitsplatz in einer Werkstatt oder anderen Produktionseinheiten finden, in denen auch Menschen ohne Behinderungen arbeiten. Die Frage dabei ist, wie Menschen mit Behinderung in Arbeitsprozesse inkludiert werden können und warum so wenige Menschen aus den Werkstätten in den ersten Arbeitsmarkt wechseln.

Wie viele Menschen wechseln denn aus den beschützenden Werkstätten in Bethel jährlich in den ersten Arbeitsmarkt?

Ulrich Pohl: In Bethel sind das in den vergangenen zwei Jahren zwei Dutzend bei insgesamt 2400 Arbeitsplätzen gewesen. Dass es so wenige gewesen sind, hat auch Gründe. Wer in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung arbeitet, erwirbt eine Altersversorgung, die nahezu einer Durchschnittsrente gleichkommt. Nach dem Wechsel in den ersten Arbeitsmarkt entstehen aber nur noch auf Grund der in der Regel niedrigen Verdienste geringe weitere Rentenansprüche. Außerdem wechseln zuerst die Leistungsstärksten. Aber jede Werkstatt für Behinderte lebt inzwischen von Aufträgen großer Konzerne und Firmen mit einer Qualitätssicherung, die über 99 Prozent ausweisen muss. Und deshalb haben die Werkstätten kein Interesse, ihre leistungsstärksten Leute abzugeben.