Der evangelische Pastor Ulrich Pohl steht seit fünf Jahren dem Vorstand der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld vor. Sie sind die größte diakonische Einrichtung Europas und von der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention massiv betroffen.

P Pohl Ulrich Interview 2014 22

zeitzeichen: Herr Pfarrer Pohl, in Artikel 3 des Grundgesetzes heißt es unter anderem, dass niemand wegen seines Geschlechts, seiner Rasse oder einer Behinderung benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Warum brauchen wir in Deutschland auch noch die UN-Behindertenrechtskonvention?

Ulrich Pohl: Sie nimmt diesen Grundgesetzartikel auf und regelt gleichzeitig auch internationales Recht, indem sie grenzüberschreitend in allen Unterzeichnerstaaten gilt. Und das ist bedeutsam. So lassen sich mit Hilfe der UN-Behindertenkonvention Standards international abgleichen. Zum Beispiel unterhält Bethel in Lobetal in Brandenburg eine Einrichtung, die achtzig Kilometer von der polnischen Grenze entfernt liegt. Ferner ist es möglich, über internationale Vereinbarungen nationales Recht noch konkreter auszugestalten. Die Konvention hat Deutschland jedenfalls einen Schub in Richtung Inklusion gegeben.

„Uns als diakonischem Träger geht es zu langsam voran.“

Ist Deutschland also auf dem Weg zu einem inklusiven Land?

Ulrich Pohl: Auf dem Weg ist Deutschland schon, aber die Frage ist nur, mit welchem Tempo? Uns als diakonischem Träger geht es zu langsam voran. Hinderlich sind zum Beispiel die unterschiedlichen Zuständigkeiten in Deutschland. So ist der Umbau der öffentlichen Verkehrsmittel Sache der Kommunen, während für die Schulpolitik die Bundesländer zuständig sind. Und auf beiden Seiten sind die finanziellen Mittel begrenzt. In Bethel haben wir schon 2001 mit unserer Vision „Gemeinschaft verwirklichen“ den Kerngedanken von Inklusion formuliert und als Leitidee für unsere Arbeit definiert. Ein äußeres Zeichen war die Umbenennung der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel. Vor fünf Jahren haben wir „Anstalten“ durch „Stiftungen“ ersetzt.

Warum geht es mit der Inklusion in Deutschland so langsam voran? Hängt das nur an den unterschiedlichen Zuständigkeiten?

Pastor Ulrich PohlUlrich Pohl: Nein, es fehlt einfach Geld. Und da stellt sich natürlich die Frage, wofür Geld in welchem Umfang ausgegeben wird. Parallel zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention müssen wir in Deutschland seit dem 1. August 2013 dem Rechtsanspruch auf einen Kindertagesstättenplatz für unter Dreijährige nachkommen. Das hat in vielen Bundesländern dazu geführt, dass das soziale Budget weitgehend ausgeschöpft ist. In Nordrhein-Westfalen genießen wir zwar immerhin die theoretische Unterstützung der Landesregierung, aber für die nötigen Umbaumaßnahmen für barrierefreie Schulen und die Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer, hat das Kultusministerium kein Geld.

Ist es sinnvoll, dass es in Zukunft um der Inklusion willen nur noch Regelschulen statt Förderschulen gibt?

Ulrich Pohl: Die Eltern sollten ein Wahlrecht haben. Und das sieht die UN-Konvention auch vor. Aber zurzeit suchen Regelschulen auf dem Land verzweifelt nach Kindern mit Behinderung, um weiter existieren zu können. Denn bei inklusivem Unterricht sind die vom Staat geforderten Mindestschülerzahlen geringer. Doch eine Regelschule muss auf Kinder mit Behinderungen auch eingerichtet sein. Es ist Elternrecht, ein Kind auf eine Regelschule zu schicken. Aber man muss darauf achten, ob das Kind, das in seiner Klasse unter Umständen das einzige mit Einschränkungen ist, wirklich inkludiert werden kann. In der jetzigen Finanzlage erleben wir es auch, dass der Inklusionsbegleiter nur bis mittags finanziert wird. Das heißt, das Kind kann im Gegensatz zu den anderen Kindern nicht am Ganztagsangebot der Schule teilnehmen, sondern muss mittags nach Hause fahren.

Haben die Eltern behinderter Kinder überhaupt eine Wahlfreiheit, wenn im ländlichen Raum viele Eltern ihre Kinder in die umliegenden Regelschulen schicken und die Förderschulen mangels Anmeldungen vor dem Aus stehen?

Ulrich Pohl: Vor diesem Problem stehen wir in Nordrhein-Westfalen schon jetzt. Denn nur wenn mindestens 144 Kinder eine Förderschule besuchen, bleibt sie bestehen. Aus der nordrhein-westfälischen Landesregierung hieß es, dass rund drei Viertel aller Förderschulen geschlossen werden. Damit aber nähme man den Eltern das Wahlrecht. Die Landesregierung hat ihren Plan wegen Geldmangels zwar erst einmal um ein Jahr verschoben, aber das hat auch mit der Einsicht zu tun, dass man nicht ein komplettes Lehrerkollegium von heute auf morgen auf inklusiven Unterricht vorbereiten kann. Zurzeit fahren Förderschullehrer in die Regelschulen, um ihre Kolleginnen und Kollegen ein- bis zweimal in der Woche vorzubereiten. Aber Qualitätssicherung erfordert mehr.