Wie können, ja müssen Unternehmen Inklusion fördern?

Ulrich Pohl: Viele Unternehmer wissen nicht, dass sie zum Beispiel Menschen mit Behinderungen zwei Jahre lang quasi zur Probe beschäftigen können. Solche Details sind nicht in den Köpfen der Entscheiderinnen und Entscheider. Und darüber muss man sie informieren.

Und man sollte mit der Behauptung aufräumen, beschützende Werkstätten als Sonderbereiche seien mit der UN-Behindertenrechtskonvention nicht vereinbar, oder?

Ulrich Pohl: Gesamtgesellschaftlich sind wir noch lange nicht so weit, dass wir auch nur den Grundgedanken der Inklusion umsetzen. Natürlich gibt es schon heute ausgelagerte Arbeitsplätze bei sozial engagierten Unternehmern. Diese stellen dann manchmal auch ein Dutzend solcher Arbeitskräfte bei sich ein. Die Inklusion in der Arbeitswelt voranzutreiben, halte ich für die wichtigste Aufgabe der kommenden zehn Jahre.

Werfen wir einen Blick in die Zukunft: Wenn die Inklusion in der Gesellschaft weitgehend verwirklicht ist, wie werden dann die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel und die Ortschaft Bethel aussehen? Wird es sie noch geben?

Ulrich Pohl: Wir sind gerade dabei, unser Anstaltsgelände weitgehend zu verändern. Deshalb wird es Bethel in einer anderen Form geben. Neben stationäre Angebote treten in großem Umfang ambulante. Versorgung im eigenen Sozialraum ist Programm. Ein Beispiel ist die Altenhilfe, die sich insgesamt dramatisch verändern wird. Denn auch Menschen mit Behinderung werden alt, und alte Menschen werden behindert. Alte Leute, die ohne Einschränkung ins Altenheim ziehen, wird es also kaum mehr geben. Dass die Lebenserwartung einerseits zunimmt und andererseits die Berufstätigkeit von Frauen, die damit als Pflegende ausfallen, wird uns vor große Herausforderungen stellen. Ich denke nicht, dass man diese Probleme nur quartiersbezogen lösen kann. Zu behaupten, wir benötigten keine stationären Angebote mehr, halte ich – auch mit einem Blick auf die Zahlen – für falsch.

In welchen Bereichen wird Bethel auf seinem angestammten Gelände künftig noch tätig sein?

P Pohl Ulrich Interview 2014 06Ulrich Pohl: Wir bieten in Bethel schon jetzt bestimmte Dienste wie die einzige Kinderepilepsieklinik Deutschlands oder ein Spezialangebot für Behindertenmedizin. Und sicher wird der Psychiatriebereich wachsen. Denn in einer immer komplizierter werdenden Gesellschaft wächst die Zahl derer, die psychisch erkranken. Bei Menschen mit Behinderung wird Bethel eindeutig weiter den ambulanten Weg gehen. Schon jetzt haben wir 1800 Plätze im stationären Bereich abgebaut und ambulante, auch intensivbetreute Angebote oder kleine lokale stationäre Einrichtungen geschaffen wie in Stade, Dortmund oder in Brandenburg.

Das heißt, große stationäre Einrichtungen gehören der Vergangenheit an?

Ulrich Pohl: Ja, wir bauen gerade das Haus Groß-Bethel um, Häuser mit mehr als einhundert Plätzen sind nicht mehr zeitgemäß. Die Norm sind jetzt kleine Einrichtungen mit bis zu 24 Plätzen für Menschen mit Mehrfachbehinderungen, psychisch Kranke oder für Suchtkranke, die noch mit Drogen zu kämpfen haben. Aber diese Menschen wohnen jetzt in dem Sozialraum, aus dem sie kommen. Das hat den Vorteil, dass Freunde und Angehörige in der Nähe sind. Im Ruhrgebiet hat Bethel zum Beispiel ein Dutzend evangelische Pfarrhäuser und Gemeindehäuser übernommen. Durch die Nähe zur Kirchengemeinde werden die genannten Menschen stark inkludiert. Die Einbindung in Nachbarschaften bedeutet eine große Steigerung der Lebensqualität.

Was können, müssen Kirchengemeinden zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen beitragen?

Ulrich Pohl: Mit den Kirchengemeinden habe ich gute Erfahrungen gemacht. Schwierigkeiten bereitet uns aber, dass viele Kirchengemeinden derzeit zusammengelegt werden. Damit werden die Aufgabenbereiche für die Pfarrer deutlich größer, und eine weitere Bethelgruppe lässt sich dann manchmal schwer schultern. Deshalb haben wir jetzt in allen Häusern Diakoniebeauftragte benannt, die sich zum Beispiel um die Andachten kümmern und den Kontakt zur Kirchengemeinde suchen und pflegen. Die örtliche Diakonie und die Kirchengemeinde sind aber immer unsere ersten Ansprechpartner.

Bethel, das einen ganzen Ortsteil umfasst, ist über die Grenzen Bielefelds hinaus in Deutschland bekannt. Besteht nicht die Gefahr, dass das Spendenaufkommen zurückgeht, wenn sich die Arbeit über die ganze Republik verteilt?

Ulrich Pohl: Bethel ist natürlich auch ein Mythos. Zum Teil wird das so bleiben, aber wir müssen uns weiterentwickeln und unseren Beitrag zu einer inklusiveren Gesellschaft leisten. Dazu gehört auch die Dezentralisierung, wir haben schon jetzt 280 Standorte in Deutschland, und dass wir in der Frage der Inklusion eindeutig Stellung beziehen. Aus unserer Tradition heraus müssen wir Entwicklungen entgegensteuern, die das Lebensrecht von Menschen mit Behinderungen bedrohen, seien es pränatale Bluttests oder assistierter Suizid. Sicher wird der Mythos Bethel durch die stärkere regionale Verlagerung der Arbeit bröckeln. Aber was wäre die Alternative? Wir möchten, dass auch ein Mensch mit Einschränkungen seine Individualität leben kann. Die Frage, was möchte ich für mich, stelle ich mir immer, wenn ich ein Altenheim betrete. Bei der Frage, stationäre oder ambulante Betreuung, geht es eben nicht um Ideologie, sondern um das Lebenspraktische.

Das Gespräch führten Kathrin Jütte und Jürgen Wandel am 27. November 2013 in Bielefeld/Bethel. Es erschien in der Zeitschrift ZeitZeichen.